klassisches Drama in Frankreich

klassisches Drama in Frankreich
klassisches Drama in Frankreich
 
Aristoteles ist an allem schuld. Seine »Poetik«, um 330 v. Chr. entstanden, in der Antike kaum beachtet und im Mittelalter ins Arabische und Lateinische übersetzt, aber wohl besonders wegen ihres literarischen Hintergrundes kaum verstanden, löste unter den italienischen Humanisten des 16. Jahrhunderts eine Diskussion über ihre Prinzipien aus, die die literarische Kultur Frankreichs im 17. Jahrhundert entscheidend prägte. 1498 erschien Lorenzo Vallas lateinische Übersetzung des Textes, 1508 das griechische Original und 1536 die bei weitem wirkungsreichste zweisprachige Ausgabe von Alessandro de' Pazzi.
 
Wovon handelt die »Poetik«, die man nach ihrer überlieferten Fassung in drei Teile gliedern kann? Zuerst sagt Aristoteles, was er unter Dichtung versteht und wie sie seiner Auffassung nach entstanden sei, am Schluss wendet er sich der Gattung des Epos zu. Der mittlere, umfangreichste Teil gilt der Tragödie, dem Genre, dem der Philosoph wie viele seiner Kommentatoren den höchsten Rang einräumte. Nach seiner Definition ist die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen Handlung. Dichtung ist für Aristoteles grundsätzlich Nachahmung der Wirklichkeit, der Natur (Mimesis). Sie erfolgt mit künstlerischen Mitteln und muss den Anforderungen der Wahrscheinlichkeit genügen. Anders als die Komödie darf die Tragödie allerdings Helden und Handlungen idealisiert darstellen.
 
Im achten Kapitel seiner Poetik spricht Aristoteles von der Einheit der Handlung. Die Fabel, der Plot eines Stückes (Mythos), ist nicht schon dann einheitlich, wenn ein einzelner Held im Mittelpunkt steht, sondern erst dann, wenn die um ihn konzentrierte Handlung einheitlich, ohne Abschweifungen und Nebenschauplätze, komponiert ist. Jeder Teil der dargestellten Ereignisse hat seinen zwingend notwendigen Ort in der Gesamtheit eines Stückes - wenn nicht, ist er überflüssig. Als weitere Kategorie führt Aristoteles die Einheit der Zeit ein: ». .. die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen. ..«
 
Damit sind die Aspekte vorgegeben, die die gelehrten, zum Teil hitzigen Auseinandersetzungen über die aristotelische Dichtungstheorie zwischen 1530 und 1570 in Italien bestimmten: das Problem von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, der Widerstreit zwischen dem ästhetischen Vergnügen an der Literatur und dem moralischen Nutzen, der aus ihr zu ziehen ist, sowie schließlich auch die Frage nach den Einheiten, die Lodovico Castelvetro in seinem Kommentar zu Aristoteles' »Poetik« (1570) wegweisend klärte. Neben den bereits bekannten Einheiten von Zeit und Handlung forderte er in konsequentem Fortdenken die Einheit des Ortes - die drei Einheiten waren geboren. Der Rahmen, in dem sich die dramentheoretische Diskussion in Frankreich bewegte, war nun festgelegt, auch wenn die Schriften Julius Caesar Scaligers, aber auch die der niederländischen Humanisten Daniel Heinsius und Gerardus Joannis Vossius weitere Anregungen gaben.
 
Vor dem Hintergrund einer kirchlich-gegenreformatorisch und politisch-absolutistisch strikt hierarchischen Ordnung wuchs Aristoteles die Rolle des obersten Reglementierers der Literatur zu, gewann er gewissermaßen die Funktion, die Richelieu für den Staat besaß, für Roman, Epos und Drama. Das aber konnte sich erst jetzt voll entfalten, in der Spannung des barocken Lebensgefühls von Schein und Nichtigkeit, von Pracht und Repräsentation, von Illusion und Desillusionierung - Gegensätze, die allein mit der ordnenden Kraft des Verstandes auszuhalten waren, dessen Urteil entsprechend alles zu unterwerfen war.
 
Für die Einführung und Durchsetzung der klassischen Regelpoetik in Frankreich ist die Generation der um 1600 geborenen Autoren verantwortlich, an erster Stelle Jean Chapelain. In Anlehnung an Aristoteles und Castelvetro fixierte er die Anschauungen über die Tragödie in so umfassender Weise, dass die übrigen Theoretiker sie nur noch in Nuancen verändern konnten. Der oberste Zweck der Dichtung ist nach Chapelain ihr moralischer Nutzen - sie reinigt von »lasterhaften Leidenschaften«. Das leistet sie aber nur, wenn sie zugleich auch, den Erwartungen der Vernunft gemäß, unterhält und erfreut. Ihre Nachahmung der Natur muss also wahrscheinlich sein. Wegen ihrer Sprünge und Unübersichtlichkeiten ist daher die unmittelbare Übernahme von rein historischen Stoffen verboten.
 
Eine entscheidende Bewährungsprobe hatte die dramatische Theorie zu bestehen, als Pierre Corneille sein Meisterwerk »Der Cid« im Januar 1637 der Öffentlichkeit im Marais-Theater präsentierte. Dieses heroische Spiel um Liebe und Ehre, um Schuld und Verzeihen erregte den Neid seines literarischen Konkurrenten, des mittelmäßigen Georges de Scudéry. Der stellte daraufhin in »Beobachtungen« (1637) zu dem Stück alle Abweichungen zusammen, die es gegenüber den Anforderungen der klassischen Theorie aufwies. Den heftigen literarischen Streit, der anschließend entbrannte, schlichtete Jean Chapelain als Mitglied der frisch gegründeten Académie française, die damit die sprachlich-literarische Ordnungsfunktion als oberste Urteilsinstanz, die ihr von Richelieu zugedacht war, zum ersten Mal erfüllte. Immerhin anerkannte die Académie bei aller Kritik die Qualitäten des »Cid«. Corneille bewahrte sich im Übrigen einen relativ freien Umgang mit den Regeln bis zum Ende seines Schaffens.
 
So löste ihn denn ein anderer in der Gunst des Publikums ab, dessen dramatisches Genie in einzigartiger Weise in den Forderungen der geltenden Dichtungslehre aufging: Jean Racine. Unter genauester Beachtung der Einheiten von Handlung, Zeit und Ort, von Wahrscheinlichkeit und »Bienséances«, wie es der Abbé d'Aubignac in seiner von Racine genau studierten »Pratique du théâtre« (1657) vorgeschrieben hatte, mit einer dichterischen Stimme, die Lyrik und Drama, ästhetische Harmonie und tiefste Betroffenheiten bezwingend verschmilzt, zeichnete er unerträgliche Grausamkeiten, fatale Leidenschaften und unausweichlichen Schicksalschlag, deutete den mythischen Glauben der Antike unter dem Einfluss der Jansenisten in den pessimistischen Terror asketischen. Christentums um und setzte eine Maschine höllischer Qualen für seine Helden in Gang. Vielleicht kommen seine Tragödien der aristotelischen Läuterungsvorstellung am nächsten, denn unbeteiligt bleibt noch heute keiner, der sie sieht.
 
Mit dem Schaffenshöhepunkt Racines fällt die Veröffentlichung des »Art poétique« (»Die Dichtkunst«) von Nicolas Boileau-Déspreaux im Jahre 1674 zusammen. Der theoretische Anspruch, den der Verfasser mit seiner Schrift verbindet, zeigt sich bereits in dem von Horaz entlehnten Titel. Boileau-Déspreaux schreibt aber keine neuen Regeln vor, sondern er hält das Erworbene unter Berücksichtigung auch kleinerer Gattungen sprachlich elegant und ein wenig popularisierend fest. Er versucht, die noch kommende Literatur mit den Maßstäben der vorhandenen zu reglementieren - ein Vorhaben, das die Entstehung des neuen Verständnisses von Kultur und Geschichte ungemein begünstigte, das sich in der »Querelle des anciens et des modernes« seinen Weg zu bahnen begann.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Auf mehrere Bände berechnet. Stuttgart u. a. 1993ff.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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